- Einleitung
- Zum Limesbegriff
- Der Limes als militärische Grenze
- Der Limes als Medium des kulturellen Austauschs
- Fazit
1 Einleitung
Der Limes in den germanischen Provinzen und in Rätien wurde in der älteren Forschung lange Zeit als „Bollwerk gegen die Barbaren“ (Bakker 1997, S.111), als Grenzwall des Imperium Romanum und damit als Grenze der zivilisierten Welt der Antike gegenüber dem germanischen „Barbaricum“ angesehen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Ansicht allerdings deutlich gewandelt. Die Grenze zwischen dem römischen Reich und der Magna Germania wird mittlerweile nicht mehr primär als militärische Anlage zum Schutz gegen die Stämme Zentral- und Nordeuropas (wie noch bei Planck 1976 zu sehen ist (vgl. Planck 2016, S. 405)), sondern als von Rom regulierte Übergangszone zwischen dem römischen Reich und dem „freien“ Germanien angesehen (vgl. Theune 2012, S. 57). Denn spätestens seit der Etablierung der Römer in Gallien in Folge des gallischen Krieges kamen Römer und Germanen in regelmäßigen Kontakt miteinander, sowohl als Feinde, als auch als Verbündete und Handelspartner, wie zahlreiche römische Importe in Germanien belegen (vgl. Bücker 1997, S. 135-140).
Nach der verheerenden Niederlage des Varus im Jahre 9 n. Chr. gegen die vom Cherusker Arminius geführte Koalition germanischer Stämme führten die Strafexpeditionen des Germanicus zu keinem entscheidenden Sieg, welcher Germanien bis zur Elbe zur römischen Provinz gemacht hätte, auch aufgrund der frühzeitigen Abberufung durch Kaiser Tiberius, der die Kosten der Errichtung und Erhaltung einer großen germanischen Provinz in keinem proportionalen Verhältnis zu den Risiken sah (vgl. Pohl 2010, S. 14 f. und Erdrich 2012, S. 308 f.). Somit blieb der größte Teil Germaniens frei von direkter römischer Herrschaft, auch wenn der direkte und indirekte römische Einfluss spürbar blieb (vgl. Steuer 2021, S. 1030-1042). Dies wird auch am Beispiel des Limes deutlich: Menschen, Ideen und Güter passierten die Grenze in beide Richtungen, sodass ein reger kultureller und wirtschaftlicher Austausch stattfinden konnte (vgl. Theune 2012, S. 57). Dieser Bestand zwar schon vor der Errichtung des Limes (vgl. Steuer 2021, S. 1030), wurde durch diesen allerdings auf bestimmte Grenzübergänge kanalisiert und dadurch möglicherweise sogar intensiviert.
Diese Arbeit soll die Rolle, welcher der Limes an den Grenzen der germanischen Provinzen und in Rätien in der römischen Kaiserzeit beim kulturellen Austausch gespielt hatte, darstellen und untersuchen, wie stark der Einfluss Roms auf Germanien tatsächlich gewesen ist. Es soll versucht werden, ein möglichst großes Spektrum der Interaktion abzubilden, weswegen sich diese Arbeit nicht nur auf das Gebiet des obergermanisch-rätischen Limes begrenzt, sondern auch den niedergermanischen Limes mit einbezieht. Theoretisch hätte auch noch der Limes weiter östlich entlang der Grenzen des Noricums und Pannoniens mit einbezogen werden können, dies hätte den Rahmen dieser Arbeit aber deutlich überzogen. Wo es zum Zwecke der Veranschaulichung sinnvoll ist, wird aber auch – allerdings selbstverständlich sehr viel weniger umfangreich – auf einige Beispiele aus dieser Gegend zurückgegriffen. Ein besonderer Schwerpunkt soll bei der Untersuchung auf den Aspekt der Romanisierung und deren Ausmaß beiderseits der Grenze gelegt werden und in welchem Umfang und auf welchem Wege dieser Prozess stattgefunden hat.
Zum Zweck dieser Untersuchung wird sowohl auf Monographien zu den Germanen und zum Limes, als auch auf spezifische Aufsätze in Sammelbänden zur Limesforschung und zum kulturellen Austausch am Limes, sowie zur Romanisierung innerhalb und jenseits der Provinzen, zurückgegriffen werden. Aufgrund der Beschaffenheit des Untersuchungsobjektes wird auch auf Ergebnisse der archäologischen Forschung zurückgegriffen werden.
Vor dem Beginn der eigentlichen Untersuchung muss noch auf die Problematik des Begriffs der Germanen und der Verwendung desselben in dieser Arbeit hingewiesen werden, da jener seit Jahrzehnten kontrovers in der Forschung diskutiert wird, sich aber nicht einfach wegdenken lässt. Des aktuellen Wissensstandes nach wurde der Begriff vor allem durch Gaius Iulius Caesar popularisiert, nachdem dieser zum Auftakt des gallischen Krieges auf den suebischen Heerführer Ariovist gestoßen ist. Die Menschen im Gefolge des Ariovist bezeichnete Caesar im Gegensatz zu den in Gallien (und anderswo, darunter auch Germanien) einheimischen Kelten (aus ähnlichen Gründen ebenfalls ein kontroverser Begriff) als Germanen und wies ihnen den Bereich östlich des Rheins und nördlich der Donau als Heimat zu. Auch wenn nach heutigem Forschungsstand davon ausgegangen werden kann, dass ein Großteil der Bewohner dieses Gebietes germanische Sprachen gesprochen hatten, so handelte es sich beim Begriff der Germanen doch um eine Erfindung, dessen Verwendung im Falle Caesars wohl auf hauptsächlich politischen Motivationen beruhte. In der Realität gab es wahrscheinlich kein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl der „Germanen“ selbst zueinander; wenn, überhaupt, dann verstand man sich wohl als Mitglied des Stammes oder noch wahrscheinlicher lediglich als Mitglied der eigenen Dorf- oder Familiengemeinschaft. Dennoch hat sich der Begriff der Germanen damals wie heute als Sammelbezeichnung für die Stämme zwischen Rhein und Donau eingebürgert und wird aus diesem Grund in dieser Arbeit auch als solcher genutzt werden, wohl wissend, dass es sich dabei größtenteils um Fiktion handelt. Nur größtenteils deshalb, da es durchaus auch Hinweise auf eine distinktive linguistische – auf welche bereits hingewiesen wurde – als auch kulturelle Verbindung der als germanisch bezeichneten Stämme zueinander gibt, welche den Germanenbegriff zumindest teilweise rechtfertigen. Auch Steuer weist darauf hin, dass „mancher Archäologe rät, den Begriff Germanen weiter zu verwenden, bei aller kritischer Distanz, wegen der allgemeinen Verständlichkeit.“ (Steuer 2021, S. 28, siehe auch S. 30-32. zur linguistischen Bestimmung des Germanenbegriffes und ab S. 30 zu Caesars Germanenbegriff). In diesem Zusammenhang werde ich die selbe Position wie Steuer bzgl. des Begriffes der Germanen einnehmen: „Trotz dieser Bedenken, […] werde ich […] auch von Germanen und germanisch sowie von Germanien [sprechen]. Es gibt sonst Probleme mit den zu wählenden Worten und mit der wissenschaftlichen Literatur bis heute, die auf diese Benennungen nicht verzichtet.“ (ebd., S.33).
Ähnlich problematisch ist der Limesbegriff, wie bereits angedeutet worden ist. Aus diesem Grund wird diese Arbeit mit einer kurzen Untersuchung zum Begriff des Limes in seinem heutigen Verständnis eingeleitet. Trotz des Wandels von der Interpretation des Limes als militärische Verteidigungsanlage zur Zone des kulturellen und ökonomischen Austauschs besaßen die Grenzanlagen durchaus auch militärische Funktionen und strategische Bedeutung. In diesem Kontext macht es dann auch durchaus Sinn, diese Aspekte zum besseren Verständnis der Grenze als solcher etwas näher zu beleuchten.
Im darauf folgenden Kapitel wird es um den eigentlichen Kulturkontakt und die Natur des Selbigen gehen. Im Fokus stehen hier offensichtlich die Kulturen der Limeszone und wie diese sich gegenseitig beeinflussten, weswegen es sich lohnt zunächst einen näheren Blick auf das kulturelle Geflecht der Limeszone vor und nach der Ankunft der Römer zu werfen. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die römisch-germanischen Beziehungen gelegt werden und inwiefern hierbei von einer Romanisierung der Bevölkerung der Limeszone gesprochen werden kann. Die Arten des Kulturkontaktes, hervorzuheben sind hier vor allem Handel und – zu einem geringeren Grad – Diplomatie, werden ebenfalls untersucht werden.
Abgerundet wird die Arbeit durch einen kurzen Rückblick auf die wichtigsten Punkte der Untersuchung und ein Fazit zur Rolle des Limes bzgl. des Kulturkontaktes zwischen Römern und Germanen und der Romanisierung der Limeszone. Der aktuelle Forschungsstand, soweit er aus den Nachforschungen im Rahmen dieser Arbeit hervorgeht, wird hierbei ebenfalls kurz dargestellt und ein Ausblick auf mögliche künftige Forschungsperspektiven gegeben.
2 Zum Limesbegriff
Benjamin Isaac demonstrierte bereits in seinem 1988 erschienenen Aufsatz, dass sich die Verwendung und damit auch die Bedeutung des Limesbegriffs im Laufe der Zeit – von der frühen Kaiserzeit bis in die Spätantike – gewandelt hatte. Ursprünglich war mit Limes wohl lediglich eine Straße mit dem Zweck der militärischen Fortbewegung, Aufklärung und Nachschubsicherung gemeint. Diese konnte durchaus auch mit Wachtürmen und Kastellen oder Ähnlichem gesichert sein, es handelte sich jedoch de facto nicht um eine aktiv umkämpfte oder verteidigte Grenze („defended border“) zweier sich gegenüberstehender Mächte irgendwelcher Art (vgl. Isaac 1988, S. 126 f.). Erst um das Jahr 100 n. Chr. herum bürgerte sich allmählich ein Verständnis des Begriffes als eine Art Grenze ein, wobei allerdings niemals von einem „hermeneutisch abgeriegelten“, militärisch befestigten Bollwerk gesprochen wurde. Diese Grenzen konnten im Nachhinein durch militärische Anlagen gesichert werden, der Begriff Limes an sich hätte allerdings nichts mit einer militärischen Verteidigungsstellung – die Interpretationen welche in der älteren Forschung bevorzugt wurde – zu tun, wie die Verwendung des Selbigen nicht nur zur Beschreibung von den Außengrenzen des römischen Reiches, sondern auch von Provinzgrenzen, deutlich macht (vgl. ebd., S. 128 f.).
Ab dem 4ten Jahrhundert wurde der Begriff laut Isaac auch im Sinne einer Grenzzone verwendet (vgl. ebd., S. 132), eine Interpretation, welche sich bei Whittaker schon in der Kaiserzeit wiederfindet. Der Autor verweist zur Erklärung seiner Definition des Begriffs auf zwei englische Begriffe für Grenze, „frontier“ und „boundary“: Ersterer lege den Fokus auf die Grenzen der (eigenen) Gesellschaft und deren Ausweitung, wahrscheinlich sowohl im räumlich-politischen als auch im ökonomischen Sinne zu verstehen, letzterer auf die Beziehungen zwischen Gesellschaften dies- und jenseits der Grenze. Für eine holistische Untersuchung der Grenzen des römischen Reiches im Allgemeinen und damit natürlich auch des niedergermanischen und obergermanisch-rätischen Limes im Besonderen müssen beide Perspektiven mit einbezogen werden, da das römische Reich zwar nominal über durch Grenzsteine oder Ähnliches markierte Grenzen verfügte, diese allerdings lediglich einen Teil einer dynamischen Übergangszone darstellten, welche sich auf beiden Seiten dieser Grenzen manifestierte (vgl. Whittaker 2004, S. 5f.). In diesem Kontext definiert Whittaker den Begriff des Limes als „the land that forms the furthest extent of a country’s settled or inhabited region“ (ebd., S. 6), also ganz deutlich nicht als eine Grenzlinie, sondern als eine Grenzzone, welche auch bevölkert ist.
Auf diese Bevölkerung geht Whittaker ein und weist darauf hin, dass Strabo zufolge auch die gentes (Stämme, Völker) jenseits der Reichsgrenzen in den Einflussbereich des Imperium fielen. Strabo geht sogar soweit zu behaupten, dass diese Völker der Peripherie zum Reich dazu gehörten, auch wenn ihr Land nicht nominal in Provinzen organisiert war (vgl. Whittaker 1997, S. 16). Erst mit dem Tod des Augustus wurden tatsächliche Grenzen des Imperiums überhaupt erst anerkannt (vgl. ebd., S. 35), davor schien ein gewisses Gefühl des „Reichs ohne Grenzen“ (imperium sine finem) vorzuherrschen (vgl. ebd. S. 32), was allerdings auch nach Augustus noch ein wichtiger Bestandteil der römischen Ideologie im Bezug zu Grenzen und zu Expansion blieb (vgl. ebd., S. 36). Dies bedeutet, dass man gewissermaßen nicht akzeptieren wollte, dass die Macht Roms überhaupt Grenzen kannte (vgl. ebd., S. 68), auch nicht im geographischen Sinne, was dazu beigetragen haben könnte, dass der Limes in beide Richtungen relativ offen und damit durchlässig blieb, auf was bereits in der Einleitung kurz hingewiesen wurde und worauf in Kapitel 4 noch näher eingegangen werden wird.
Die Untersuchung des Kulturkontaktes im Bereich des Limes kann sich aufgrund dieser Definitionen also nicht bloß auf den Verlauf der militärischen Anlagen entlang der Grenzen der Provinzen beschränken, sondern muss auch die Bereiche direkt vor und hinter der Grenze, also die ganze Grenzzone, mit einbeziehen, und vielleicht sogar noch darüber hinaus. Vorerst ist allerdings noch eine Betrachtung dieser militärischen Anlagen angebracht, welche zum Missverständnis des Limes als reine Abwehranlage gegen die Barbaren geführt hatten, denn diese waren auch Teil des Grenzgebietes und beeinflussten das Leben der lokalen Bevölkerung.
3 Der Limes als militärische Grenze
Wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, gilt die Ansicht des Limes als bloße militärische Verteidigungsanlage mittlerweile als überholt. Von Schnurbein weist zurecht darauf hin, dass es sich bei den Grenzbefestigungen mehr um eine Demarkationslinie als um ein strategisch wertvolles Hindernis gegen einfallende Germanen handelte (vgl. Von Schnurbein 1992, S. 72). Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass es im Falle des obergermanisch-rätischen Limes über weite Strecken gewisse Befestigungsanlagen – beispielsweise in Form von Palisaden (im Falle des rätischen Limes später sogar Mauern (vgl. Wesch-Klein 2012, S. 119)), Gräben und Wachtürmen – gab, und dass diese durch ein durch Straßen verbundenes Netzwerk von Kastellen gesichert wurden. Der tatsächlichen defensiven Qualität dieser Anlagen darf allerdings kein allzu großer Stellenwert beigemessen werden, da diese für eine entschlossene Truppe kaum ein Hindernis darstellten, auch aufgrund des Umstandes, dass die schiere Länge die effektive Verteidigung der gesamten Anlage unmöglich machte. Der eigentliche strategische Wert lag im durch die Türme, welche in Sichtkontakt zueinander standen, und Straßen gegebenen Kommunikationsnetzwerk, mithilfe dessen die Garnisonen innerhalb der nahe gelegenen Kastelle benachrichtigt werden konnten, welche Eindringlinge dann abfangen konnten (vgl. Steuer 2021, S. 1023). Im Gegensatz zum obergemanisch-rätischen Limes blieb die Grenze der römischen Provinz Germania Inferior eine „nasse“ Grenze entlang des Rheins, welche relativ „leicht zu sichern“ war. Hier waren ebenfalls Kastelle im unmittelbaren Hinterland der Grenze vorhanden, deren Garnisonen im Falle eines Einfalls zur Sicherung eingesetzt werden konnten (vgl. ebd., S. 1025).
Eine der Funktionen der Grenzanlagen war also durchaus auch die Sicherung der römischen Provinzen und deren Bevölkerung. Darüber hinaus dienten sie aber auch anderen Zwecken. Eine weitere Funktion war wohl die Markierung einer völkerrechtlichen Grenze zwischen dem Imperium und dem Barbaricum. Der Begriff des Limes wird hier offensichtlich im Sinne der Grenzlinie, sichtbar an den militärischen Anlagen, verwendet. Darüber hinaus wurden die Grenzbefestigungen sowohl zur Kontrolle von Personen und Waren, welche die Grenze überquerten, und der Erhebung von Steuern und Zöllen, als auch für die Verteidigung des Reiches gegen kleinere Kriegergruppen verwendet. Wesch-Klein weist zurecht darauf hin, dass es sich beim Limes um keine statische Grenze gehandelt hatte, und dass die Grenzbefestigungen im Laufe der Zeit mehrmals verlegt worden sind, oftmals auch aufgrund aktueller Vorfälle. So wird zum Beispiel eine Vorverlegung des obergermansich-rätischen Limes mit dem Bataveraufstand in Niedergermanien in Verbindung gebracht: Man wollte in Zukunft durch eine Verschiebung der Grenze weiter ins Landesinnere die Möglichkeit einer schnelleren und effizienteren Antwort auf germanische Bedrohungen schaffen. Eine „klare, augenfällige Abgrenzung des römischen Territoriums von dem Siedlungsgebiet davor lebender Ethnien unterblieb“ allerdings (vgl. Wesch-Klein 2012, S. 119-120). Bei dieser Grenzverlegung wird deutlich, dass dem Limes durchaus auch eine Rolle als strategisches Mittel zur Bekämpfung akuter Bedrohungen und zur Prävention künftiger Einfälle ins Reichsgebiet zugekommen ist.
Auch Steuer nimmt an, dass Grenzverschiebungen mit den Bewohnern jenseits der Grenze zusammenhingen. Ihm zufolge kann eine frühere Verschiebung des Limes nach Obergermanien und Rätien hinein,weg von der vorherigen, nassen Grenze an Rhein und Donau, mitunter durch ein vermehrtes Auftauchen germanischer Siedler in diesen Bereichen erklärt werden. Andere Gründe, so wie die „Verkürzung der Linienführung […] oder der brauchbare Zugewinn fruchtbaren Ackerlandes“ werden zwar ebenfalls angeführt, unabhängig von deren Gewichtung scheint jedoch ein gewisser „Druck“ von den neuen Siedlern ausgegangen zu sein, welchem Rom mit mehreren Grenzverlegungen in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten begegnete (vgl. Steuer 2021, S. 1024). Gemeint mit diesem Druck war wohl eine als solche wahrgenommene Bedrohung, welche von den germanischen Stämmen jenseits der Grenze ausging und eine Grenzverschiebung zum Zweck der besseren Überwachung aus Sicht des römischen Reiches notwendig machte. Diese Germanen waren allerdings nicht nur jenseits des Limes zu finden, sondern auch in den Kastellen als Teil der Garnisonen, welche zur Sicherung der Grenze eingesetzt wurden (vgl. ebd., S. 1029) und wohl auch in einigen zivilen Siedlungen, so z.B. der Neckarsueben (vgl. Pohl 2010, S. 18).
Trotz der germanischen Bedrohung herrschte „Im 2. Jahrhundert […] lange Zeit relative Ruhe an der Germanengrenze“, zumindest bis zum Ausbruch der Markomannenkriege. Nach Marcus Aurelius’ Sieg über die Markomannen und Quaden schloss dessen Sohn, Commodus, Frieden mit jenen Stämmen, woraufhin diese zu relativ „berechenbare[n] Partner[n] des Imperiums“ wurden, was auch zu einem im Vergleich zu anderen Gebieten der Magna Germania gesteigerten Aufkommen von römischen Importen führte. Pohl spricht von einer „relativ stark romanisierten Führungsschicht“ und berichtet von einer zunehmenden Ansiedelung von Germanen auf der römischen Seite des Limes. Trotz dieses Partnerverhältnisses von Markomannen und Quaden auf der einen, und Römern auf der anderen Seite, führten die vorausgegangen Auseinandersetzungen zum Ausbau und zur Verstärkung der militärischen Präsenz Roms an der Grenze (vgl. ebd., S. 25 f.).
Dass diese Einschätzung der Lage als Bedrohung nicht komplett verkehrt war, zeigen die Beutezüge der Germanen ins Reichsgebiet. Abgesehen von der Aussicht auf Beute schien ein weiterer Grund für die Einfälle die Suche nach neuen Siedlungsräumen gewesen zu sein. Steuer führt dies u.A. auf einen „Bevölkerungsdruck“ im Landesinneren zurück (vgl. Steuer 2021, S. 1045).
Generell waren kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Germanen, welche in der nähe des Limes siedelten, jedoch selten, da diese von der mit dem Wohlstand der römischen Zivilisation und den Bedürfnissen des römischen Heeres einhergehenden wirtschaftlichen Entwicklung profitierten. Wenn es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam, zu Beutezügen oder gar zu invasionsähnlichen Einfällen von größeren Kriegertrupps oder gar ganzen Heeren, so erfolgten diese überwiegend seitens der Verbände aus dem Landesinneren, welche weniger von der Grenzwirtschaft profitierten (vgl. ebd., S. 1049).
Wesch-Klein bringt den militärischen Aspekt des obergermanisch-rätischen Limes als eine „wohl überwachte Grenzlinie“, dessen Verlegung hauptsächlich dem „Selbstschutz der Römer vor unliebsamen Übergriffen“ diente treffend auf den Punkt. Dennoch handelte es sich nicht um einen „Wehrbau“, welcher zur Abwehr größerer germanischer Kriegertrupps oder gar Invasionsarmeen fähig gewesen ist. Das komplexe Netzwerk aus Kastellen, verbunden durch patrouillierte Straßen im unmittelbaren Hinterland des Limes war allerdings ein effizientes Mittel zur Nachrichtenübertragung im Falle eines solchen Einfalls, welches dann schnell Meldung machen konnte, woraufhin adäquate Truppen in den Legionslagern der Provinzen zum Abfangen der Eindringlinge mobilisiert werden konnten (vgl. Wesch-Klein 2012, S. 131).
Somit sollte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ausreichend dargestellt sein, dass dem Limes, vor allem im Süden, auch eine militärische Rolle zukam. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, wie bereits mehrfach erwähnt wurde, dass der Limes den kulturellen Austausch zwischen Imperium und Barbaricum aufhielt. Er lenkte diesen vielmehr in für die Römer leichter zu kontrollierende Bahnen ohne dessen Intensität merklich abzuschwächen. Die zuvor erwähnten germanischen Besatzungen der Garnisonen sind hierfür auch mitverantwortlich, da sie römische Waren und Ideen nach Germanien mitbrachten, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird. Die im Kontext der Markomannenkriege angesprochene Romanisierung gewisser Gesellschaftsschichten germanischer Stämme ist ein Phänomen, welches auch am niedergermanischen und obergermanisch-rätischen Limes zu beobachten ist, und welches vielleicht sogar als charakteristisch für die römisch-germanischen Grenzgebiete angesehen werden kann.
4 Der Limes als Medium des kulturellen Austauschs
4.1 Die Kulturen der Limeszone
Whittaker geht davon aus, dass eine Grenzzone, im Gegensatz zu einer Grenzlinie, „integrates those who are culturally diverse“ (Whittaker 1997, S. 73). Im Bezug auf den Limes in den germanischen Provinzen und Rätien bedeutet dies also, dass ein wesentliches Charakteristikum des Selbigen der kulturelle Kontakt und Austausch zwischen Römern und Germanen und zum Teil wohl auch Kelten war. Allgemein muss bei den „germanischen“ Provinzen von einer heterogenen Bevölkerung, bestehend aus Kelten, Germanen, sowie Einwanderern aus anderen Teilen des Imperiums ausgegangen werden (vgl. Spieckermann 2008, S. 307).
Besonders im Hinblick auf den niedergermanischen Limes, welcher ja dem Lauf des Niederrheins folgte, macht es Sinn darauf hinzuweisen, dass der Fluss selbst, anders als dies von römischer Seite (wie vom in der Einleitung erwähnten Caesar) postuliert wurde, niemals eine Grenze zwischen Kulturen darstellte. Beiderseits des Rheins waren in den Jahrhunderten um Christi Geburt sowohl germanische als auch keltische Völkerschaften anzutreffen. Selbiges gilt natürlich auch für das Gebiet, wo später der obergermanisch-rätische Limes verlaufen sollte. Auch hier lebten verschiedene ethnische Gruppen, und die Errichtung der Grenzanlagen änderte daran nicht viel (vgl. Whittaker 1997, S. 74). Auf dem Gebiet der Provinzen Germania Superior und Raetia lassen sich schon relativ früh, Frank zufolge seit dem 2. Jhd. v. Chr, germanische Siedlungsspuren neben den „alteingesessenen“ Kelten nachweisen (vgl. Frank 1997, S. 69). Ähnlich wie diese Germanen die Kelten nicht aus Süd- und Mitteldeutschland verdrängt hatten, sondern mit jenen koexistieren, so verdrängten die Römer auch nicht die Kelten und Germanen aus den Provinzen Niedergermanien, Obergermanien und Rätien. Unüberschreitbare kulturelle Grenzen bestanden weder vor noch nach der Ankunft der Römer in diesen Regionen (vgl. Whittaker 1997, S. 74).
Im Kontrast zur ethnisch-kulturellen Vielfalt der Limeszone steht die relativ geringe Bevölkerungsdichte der Grenzgebiete in der römischen Kaiserzeit, zumindest auf germanischer Seite. Das unmittelbare Vorfeld des rätischen Limes schien für lange Zeit so gut wie siedlungsleer gewesen zu sein, und auch am obergermanischen Limes gab es kaum Siedler, zumindest den archäologischen Funden zufolge. Die römische Geschichtsschreibung nennt auch keine Stammesnamen für die wenigen in diesem Bereich befindlichen Gruppen (sieht man von den bereits erwähnten Neckarsueben auf römischer Seite der Grenze ab), was für deren geringe Anzahl, aber auch für einen Mangel an strategischer Relevanz aus Sicht der Römer sprechen könnte. Anders als die bereits erwähnten Markomannen bevor deren Befriedung durch Marcus Aurelius, schienen diese wenigen Siedler in friedlicher Koexistenz mit der Bevölkerung auf römischer Seite des Limes gelebt zu haben, wie „zahlreiche römische Importstücke“ belegen. Diese waren scheinbar so weit verbreitet, dass man sie „in praktisch jedem germanischen Gehöft“ vorfand, was für ausgeprägte Handelsbeziehungen sprechen könnte. Unter Umständen könnten die römischen Waren ihren Weg aber auch im Gepäck germanischer Söldner im Dienste des römischen Heeres nach Germanien gefunden haben, beispielsweise solcher, welche in den Kastellen am Limes stationiert waren, oder es könnte sich gar um Beute handeln. Letzteres scheint Frank allerdings für unwahrscheinlicher zu halten, da er lediglich von „vereinzelte[n] Beutestücke[n]“ spricht (vgl. Frank 1997, 69-72).
Ähnlich siedlungs- bzw. bevölkerungsarm schien Whittaker zufolge übrigens auch das Vorland des niedergermanischen Limes auf germanischer Seite gewesen zu sein, wobei hervorzuheben ist, dass das Südufer recht dicht besiedelt gewesen zu sein scheint, und zwar auch von germanischen Stämmen, den Batavern und Cananefaten, welche Auxiliartruppen für die Römer stellten bzw. stellen mussten. Dem Autor nach war diese Bevölkerungsarmut auch einer der Gründe dafür, weswegen der Limes in Niedergermanien nicht vorverlegt wurde, wie im Falle des obergermanischen Limes. Weiter nördlich machte ökonomisch aus Sicht der Römer wohl keinen Sinn, da die Kosten der Eroberung und die damit verbundenen Versorgungsschwierigkeiten der Armee, sowie der auf die Eroberung folgende Administrationsaufwand der wirtschaftlichen Erschließung den Gebietszuwachs nicht wert waren (vgl. Whittaker 1997, S. 88 f.), eine Einschätzung, welche an Tiberius Position zu den Feldzügen des Germanicus erinnert, und auf welche in der Einleitung bereits hingewiesen worden ist.
Frank hält dem allerdings entgegen, dass das Vorland des niedergermanischen Limes „während der gesamten römischen Kaiserzeit dicht besiedelt“ gewesen sei und dass germanische Siedlungen nahe, praktisch gegenüber, der „römischen Ansiedlungen und Militärlager“ gelegen waren. Viele der aus dem Dienst entlassenen Auxiliareinheiten ließen sich ihm zufolge ebenfalls in diesem Gebiet nieder (vgl. Frank 2008, S. 9). Von Schnurbein räumt ein, dass auch das Gebiet des obergermanisch-rätischen Limes u.U. gar nicht so siedlungsleer war, wie bisher angenommen wurde und verweist auf die intensive Forstwirtschaft, welche sowohl vor als auch während des Ausbaues der Limesanlagen in manchen Regionen (genannt wird hier konkret das Beispiel Gießener Becker) auf eine größere Bevölkerungsdichte hindeutet (vgl. Von Schnurbein 1992, S. 76).
Was die zivile Besiedelung auf römischer Seite des Limes angeht wird über deren Ausmaß ebenfalls noch debattiert. Um die Kastelle herum entstanden oftmals Siedlungen der zivilen Anhängerschaft der Garnisonen, welche sich mit der Zeit auch in Dörfer und Städte entwickeln konnten (vgl. hierzu auch Spieckermann 2008, S. 309). Wo die Bevölkerung letztendlich herkam und wie diese ethnisch und kulturell einzuordnen ist, bleibt allerdings kontrovers. Bei Tacitus wird auf einen Zuzug aus Gallien ins Dekumatland hingewiesen (vgl. Von Schnurbein, S. 77). Spieckermann bestätigt, dass auch noch unter Kaiser Domitian ein Zuzug aus Gallien zu verzeichnen war und bezeichnet das Ausmaß des Selbigen als „erheblich“ (Spieckermann 2008, S. 309). Später, ab dem 2. Jhd. n. Chr. verdichtete sich die Besiedlung deutlich, was mit der Immigration von Bewohnern anderer Teile des Reiches in die germanische Provinz und der Niederlassung von Veteranen erklärt werden könnte (vgl. Von Schnurbein, S. 77-79).
Während also die Frage nach der Bevölkerungsdichte noch nicht abschließend geklärt zu sein scheint, kann man auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes zumindest von einer heterogenen Bevölkerung der Limeszone sowohl vor als auch nach der Etablierung der Römer in Mitteleuropa ausgehen, unabhängig davon, wie viele Menschen tatsächlich dort gelebt haben. Es spricht sogar einiges dafür, dass die ethnische und kulturelle Vielfalt in diesen Gebieten durch den Zuzug aus anderen Teilen des Reiches und der Ansiedelung von Veteranen (vgl. ebd., S. 79). angestiegen ist. Wie bereits angesprochen wurde, sind für diese Untersuchung von besonderem Interesse die Interaktionen von Germanen und Römern zueinander, und zwar beiderseits der Grenze. Welcher Natur diese Interaktionen waren und wie sie die Lebenswelt der Einheimischen beeinflussten wird im Folgenden untersucht werden.
4.2 Handel und Diplomatie als Wegbereiter
Wie bereits berichtet wurde, fanden sich römische Waren in nahezu allen germanischen Siedlungen in der Limeszone und es gibt mehrere mögliche Wege, auf welchen diese Produkte nach Germanien gelangt sein könnten. Steuer teilt die Magna Germania in drei Bereiche bzw. Zonen auf, welche unterschiedlich stark von römischen Waren durchdrungen waren, woraus Schlüsse auf die Beziehung zwischen Römern und Germanen in den jeweiligen Bereichen gezogen werden können. Das unmittelbare Vorfeld des Limes war demnach durch kontinuierlichen „Kontakt“ und Handel gekennzeichnet, während die Zone jenseits des Vorfeldes vor allem von diplomatischen Beziehungen mit den Römern, welche auch Geschenke seitens Rom beinhalten konnten, und vom Austausch mit den „limesnahen“ Germanen bestimmt gewesen sei. Weiter im Inland Germaniens, in Steuers dritter Zone, fanden sich römische Waren überwiegend aufgrund von Beutezügen und nicht aufgrund von Handelskontakten oder diplomatischen Verbindungen, wie in den am römischen Reich näher gelegenen Zonen (vgl. Steuer 2021, S. 1040). Auf diese Art und Weise seien übrigens nicht nur materielle Produkte, sondern auch Ideen nach Germanien gekommen (vgl. ebd., S. 1033).
Dieser Kombination aus Handel, Diplomatie und Beutezüge als Wege römischer Güter und Ideen in die germanische Lebenswelt hinzuzufügen wäre noch die Möglichkeit des Transfers sowohl von Produkten als auch von „Technologie und Lebensart“ durch zurückkehrende germanischer Söldner in ihre Heimat (vgl. Bücker 1997, S. 135). Germanen innerhalb der römischen Provinzen, so z.B. die Bataver in Niedergermanien, passten sich langsam an das römische Leben an, ohne aber vollständig auf Althergebrachtes zu verzichten. Traditionelle Wohnstallhäuser wurden „durch Steinfundamente ergänzt“ anstatt komplett abgerissen und im römischen Stil wiederaufgebaut zu werden. Einher mit diesem Wandel ging auch der Militärdienst, welche viele Bataver nun in der römischen Armee ablegten (vgl. Steuer 2021, S. 1033 f.). Selbst Teile der „ländliche Bevölkerung“ hatten im Zuge dieser begrenzten Romanisierung übrigens das Lesen und Schreiben gelernt (vgl. ebd., S. 1049). Dass dies allerdings ein langwieriger Prozess war und dass sich die Bataver große Teile ihrer traditionellen Lebensweise über einen langen Zeitraum beibehielten, bestätigt auch Spieckermann. Lediglich „Veteranen und Händler“ lebten in den stärker romanisierten Städten, während der Großteil des Stammes weiterhin auf dem Land wohnte, wo die traditionelle Lebensweise der Einheimischen vorherrschte. Weiter südlich in der Provinz und in der Germania Superior schien sich die römische Lebensweise allerdings schneller durchzusetzen als im Norden bei den Batavern (vgl. Spieckermann 2008, S. 307 f.).
Für die Limeszone und damit für diese Untersuchung von besonderem Interesse ist der grenzüberschreitende Handel, welcher laut Steuer charakteristisch für die Grenzzone war. Dieser wird bei Whittaker u.a. durch die Notwendigkeit der Versorgung der Grenztruppen erklärt (vgl. Whittaker 1997, S. 113 f.). Am Niederrhein wurden vor allem „cattle, horses, and sheep“ gegen Getreide getauscht. Scheinbar herrschte ein Mangel an selbigem in Germanien vor, Whittaker verweist in diesem Kontext auf Kommentare Caesars und Tacitus’ im Bezug auf den Unwillen der Germanen zur Bestellung von Böden und auf einen Bevölkerungsanstieg im 2. Jhd. n. Chr., und dieser Mangel führte zu einer vom Autor als symbiotisch bezeichneten Beziehung zwischen den Viehwirtschaft betreibenden Germanen nördlich und der intensiven Agrarwirtschaft betreibenden römischen Provinzbevölkerung südlich des Rheins (vgl. ebd., S. 118). Whittaker geht davon aus, dass dieser Grenzhandel zwischen Römern (oftmals wohl Angehörige des römischen Militärs) und Einheimischen beiderseits der Grenze zur Bildung eines neuen sozio-ökonomischen Systems im Gebiet des Limes führte, welcher das Leben dort charakterisierte (vgl. Whittaker 2004, S. 89).
Am Donaulimes wurden in markomannischen Gebieten Hinweise darauf gefunden, dass römische Soldaten Vorposten innerhalb Germaniens unterhielten und dass auch römische Händler unter den Germanen, vor allem in Fürsten- bzw. Herrenhäusern, anzutreffen waren. Diese tauschten dort römische gegen einheimische Waren, darunter u.A. Bernstein und Getreide. Anzeichen für solcherlei Vorposten gibt es auch am Mittelrhein, allerdings weniger eindeutig, da hier lediglich römische Keramik gefunden wurde (vgl. ebd., S. 116 f.). Auch am Niederrhein, genauer gesagt im Ruhrgebiet, gibt es Hinweise darauf, dass es römische Vorposten und gar ganze Händlersiedlungen beiderseits des Stromes gegeben hatte (vgl. Steuer 2021, S. 1053).
Germanische Händler drangen ihrerseits ebenfalls ins römische Reich vor und handelten dort mit ihren Waren, wie Tacitus beispielsweise von den Hermunduren berichtet. Handelssanktionen wurden bereits damals als Druckmittel seitens der Römer eingesetzt, was für den Wert bzw. das Potential dieses Grenzhandels für zumindest manche der germanischen Stämme (genannt werden u.A. die Markomannen und Quaden, wieder am Donaulimes) spricht (vgl. Whittaker 1997 f.).
Welches Ausmaß dieser Handel angenommen hat, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Erdrich widerspricht der ihm zufolge populären These eines sich im Laufe der Kaiserzeit intensivierenden Grenzhandels am Niederrhein und bringt die Präsenz römischer Waren im nordwestlichen Germanien eher mit „außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen Roms“ in Verbindung als mit Handel (vgl. Erdrich 2012, S. 328). Erdrich zufolge hatte dieser keinen nennenswerten Einfluss auf die germanische Lebenswelt jenseits des Limes (vgl. Erdrich 2012, S. 310), abgesehen von verschieden gearteten Beziehungen – auch diplomatischer Natur, welche, wie bereits angesprochen wurde, auch die Übergabe von Geschenken beinhalten konnte – zur Oberschicht, auf welche noch näher eingegangen werden wird. Diese Beziehungen werden hier auch als Indiz für die Schwierigkeiten bei der tatsächlichen Verteidigung der Grenze gesehen: Anstatt den Limes ausreichend mit Truppen zu sichern, was besonders bei Krisen in anderen Regionen des Reiches schwierig war, suchte man Verbündete jenseits der Grenze (vgl. ebd. S. 320). Eine gewisse Ausnahme stellten, was den Grenzhandel angeht, dem Autor zufolge die frisii minores dar, welche des Öfteren in diplomatischen Beziehungen zum Reich standen und deren Siedlungsgebiet zeitweise (über 9 n. Chr. hinaus) sogar nominal zum Reich gehörte und sehr enge ökonomische Verbindungen zu Niedergermanien und zu den dort einheimischen Cananefaten unterhielten. In diesem Kontext muss allerdings erwähnt werden, dass Erdrich spekuliert, ob das Gebiet der frisii minores unter diesen Umständen nicht vielleicht doch als Teil der Germania Inferior angesehen werden kann oder sogar muss. Die ökonomischen und diplomatischen Kontakte wären dann zwar streng genommen immer noch grenzüberschreitend, wenn man den Rhein als Grenze des Reiches akzeptiert, die diplomatischen bzw. ökonomischen Partner wären allerdings de facto Teil des Reiches gewesen. In diesem Fall würde es sich übrigens um ein Gebiet handeln, welches nicht durch militärische, sondern durch ökonomische und diplomatische Mittel erschlossen worden ist. Es sollte noch erwähnt werden, dass Erdrich das Auftreten römischer Waren („Gebrauchskeramik“) in Germanien nicht als „Werk von Händlern“ sieht, sondern lediglich von einer „Öffnung der bisher beinahe hermeneutisch geschlossenen Reichsgrenze“ spricht (vgl. ebd., S. 326). Auf welche andere Art und Weise die Gegenstände in den Nordwesten Germaniens nach dieser Öffnung der Grenze gelangten, wird an dieser Stelle nicht erläutert. Auch das Bild der hermeneutischen Grenze, welche bei Bedarf geöffnet wird, ist im Kontext des Bildes des Limes als dynamische und durchlässige sozio-kulturelle, sowie ökonomische Übergangszone, fraglich.
Dass es Beziehungen diplomatischer und ökonomischer Art zwischen dem römischen Reich und den Bewohnern der Magna Germanien gegeben hat, sollte jedenfalls offensichtlich geworden sein, auch wenn deren Ausmaß und Intensität umstritten ist. Dieses Problem und ob diese Beziehungen zu einer Romanisierung der Limeszone und deren Bevölkerung geführt haben und, wenn ja, in welchem Umfang, soll nun abschließend erörtert werden.
4.2.1 Akkulturation oder Assimilierung? Romanisierung in der Limeszone
Was ist Romanisierung? Bei der Romanisierung geht es, so Steuer, „um Sachgüter, die Römisches nachahmten, um römische Sitten, abgebildet in den Ess- und Trinkgeschirrsätzen in den ‘Fürstengräbern’, in kulturellen Einflüssen […], in der Organisation größerer militärischer Verbände und anscheinend auch im kultischen Bereich durch die Anpassung römischer Götterstatuen an die eigenen Gottheiten.“ (Steuer 2021, S. 1032). Hierbei handelte es sich oftmals nicht nur „um Übernahme, sondern um Umgestaltung“, illustriert am Beispiel des (älteren) Futharks, den ersten germanischen Schriftzeichen, welche (wahrscheinlich zu großen Stücken) vom lateinischen Alphabet inspiriert worden sind (vgl. ebd. f., zum Ursprung der Runen vgl. u. a. Düwel 20084, Kapitel 9).
Alle von Steuer aufgeführten Aspekte der Romanisierung können an dieser Stelle aus Platzgründen leider nicht bearbeitet werden, stattdessen wird sich die Untersuchung auf den Effekt dieses komplexen Prozesses auf die lokale Bevölkerung vor allem im Bereich des kulturellen Wandels als Ganzem, insofern dieser stattgefunden hat, konzentrieren. Hilfreich ist hierbei ein Blick auf Spieckermanns Phasen der Romanisierung in den germanischen Provinzen. Unterteilt werden diese Phasen chronologisch in drei Perioden: „1. die formative Periode von der Eroberung bis ca 70 n. Chr.; 2. die Phase der Konsolidierung bis ca. 150 n. Chr. und 3. die Blütezeit und Phase der intensiven ‘Eigen-Romanisierung (Romanisation) bis zum Fall des Limes 230/260 n. Chr.“ (Spieckermann 2008, S. 307). Man kann davon ausgehen, dass der sogenannte „Limesfall“ in Rätien und Obergermanien weniger relevant für den Romanisierungsprozess in Niedergermanien war. In den gallischen (keltischen) Teilen der Germania Superior scheint dieser Prozess u.A. durch vorangegangen Kulturkontakt mit den „Griechen, Etruskern und Römern“ schneller vonstatten gegangen zu sein als in der Limeszone (vgl. ebd.). Vorangetrieben wurde die Romanisierung Spieckermann zufolge vor allem vom Militär und in diesem Zusammenhang durch „die Integration der lokalen Eliten“, eine Vorgehensweise, auf welche in Kürze noch einmal zurückzukommen sein wird (vgl. ebd., S. 308). Später wird das Militär im Kontext der fortschreitenden Romanisierung der Provinzen im 2. Jhd. n. Chr. und der damit verbundenen vermehrten Rekrutierung Einheimischer gar als „Schule für römische Kultur und Wertvorstellungen“ beschrieben. „Esssitten und „Grabluxus“ seien auf diesem Wege von der Provinzbevölkerung übernommen worden. Zu Letzteren gehörten auch Grabreliefs, welche beispielsweise von der Elite der in Mainz einheimischen keltischen Bevölkerung übernommen wurde (vgl. ebd., S. 309).
Pohl geht ebenfalls davon aus, dass man in Teilen der von den Römern besetzten, von germanischen Volksgruppen besiedelten Gebiete, durchaus von einem fortschreitenden Prozess der Romanisierung sprechen kann, so z.B. bei vielen linksrheinischen Gruppen in der Provinz Germania Inferior (vgl. Pohl 2010, S. 29). Hervorzuheben seien hier u.a. die bereits erwähnten Cananefaten aufgrund ihrer Rolle als Auxiliartruppen für Rom (vgl. Erdrich 2012, S. 309). Auch die Keramik, welche in diesem Gebiet hergestellt wurde, veränderte sich langsam unter dem Einfluss der Römer im Vergleich zu den nördlich der Reichsgrenze siedelnden Friesen (vgl. ebd. 306 f.).
Es gilt nun zu überprüfen, ob sich der in den Provinzen abspielende Prozess der Romanisierung auch auf die Limeszone selbst übertragen lässt. Wie im vorherigen Kapitel bereits anhand von Steuers Einteilung der Magna Germania in verschiedene Zonen beschrieben wurden, variierte der römische Einfluss je nachdem, wie nah die entsprechende Zone am römischen Reich gelegen war. Bei Whittaker findet sich eine ähnliche Teilung in Bereiche unterschiedlich starker Durchdringung römischer Waren und damit auch römischer Kultur und Romanisierung: Einen Bereich, welcher als „Vorlimes“ beschrieben wird und welcher auch auf der Ebene der Alltagsgegenstände von römischen Importwaren durchdrungen war (als Beispiele werden hier „ceramics, wine, and probably wheat“ genannt), und einen Bereich weiter im Landesinneren, in welchen lediglich die wertvolleren „prestige objects of bronze, glass, and silver“ gelangten. Im Falle des Vorlimes war der größte Teil der römischen Waren auf die in als „Herrenhof“ bezeichneten Wohnstätten der Oberschicht begrenzt, was Whittaker als Indiz dafür nimmt, dass „Roman occupation reinforced local aristocracies beyond the frontier“ und die sozial niedriger gestellten Schichten weniger vom ökonomischen und kulturellen Einfluss Roms profitierten, eine Annahme, welche uns bereits im Kontext der Markomannenkriege begegnet ist. Nichtsdestotrotz muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesen Importwaren, selbst im Bereich des Vorlimes, um eine relativ geringe Anzahl im Vergleich zu den römisch-germanischen Provinzen gehandelt hatte und daher weder von einer vollständigen, noch von einer mit den römischen Provinzen vergleichbaren Romanisierung der Bevölkerung dieser Areale gesprochen werden kann. Die Hauptempfänger römischer Einflüsse waren die sozial besser gestellten, die Häuptlinge, Könige und Fürsten und deren Entourage, während das Gros der Bevölkerung weniger stark bis in manchen Fällen wohl gar nicht beeinflusst wurde (vgl. Whittaker 1997, S. 122-125). Whittaker fügt dem in einem späteren Werk noch ergänzend hinzu, dass die Regionen näher an der Grenze – vor allem im friesischen Stammesgebiet – einem kontinuierlichen Zufluss an römischen Importwaren ausgesetzt wären, während diese weiter im Inland eher phasenweise in Wellen auftraten. Dieses Phänomen kann möglicherweise auf die Rückkehr von Auxiliartruppen anstelle von intensiven Handelskontakten, wie im Falle der Friesen, zurückgeführt werden (vgl. Whittaker 2004, S. 16). Auf die enge Beziehung zwischen zumindest den frisii minores und Rom wurde ja schon bei Erdrich hingewiesen. Auch die Auffassung, dass römische Waren im Landesinneren nur phasenweise auftreten deckt sich mit der Annahme Erdrichs, dass diese als diplomatische Geschenke in Krisenzeiten nach Germanien gelangten. Letzterer Aspekt weicht natürlich von Whittakers Vermutung ab, dass römische Gegenstände im Gepäck von zurückkehrenden Hilfstruppen nach Germanien gelangten, die beiden Ansätze schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus.
Wenngleich die Anzahl römischer Waren auf römischer Seite des Limes größer war als auf germanischer, so handelte es sich doch um die gleiche Art von Gegenständen, nämlich überwiegend solche des alltäglichen Gebrauchs. Dies bedeutet, dass – ähnlich wie im „freien“ Germanien – der Großteil der Bevölkerung unter römischer Administration ebenfalls nicht von den Luxus- und Prestigegütern des Reiches profitierte: „ […] in the range of goods they used, they resembled each other more than they did their own upper classes” (Whittaker 1997, S. 127 f.). Diese Spaltung in eine soziale Ober- und Unterschicht, gekennzeichnet durch die ungleiche Verteilung von diesen Luxus- und Prestigegütern, zeichnet sich also konsequent über beide Seiten des Limes hin ab: Sowohl in germanischen Herrenhäusern als auch in römischen Villen beiderseits der Grenze finden sich diese Waren, während die sozial schlechter gestellten Schichten auf Alltagsgegenstände begrenzt waren, und zwar nicht nur römischer, sondern auch germanischer Machart (das konkrete Beispiel, welches Whittaker hier verwendet, bezieht sich auf Keramik, welche mit den Frisii assoziiert wird und in Niederlassungen beiderseits des niedergermanischen Limes gefunden wurde) (vgl. ebd., S. 128). In diesem Kontext scheint es im Bezug auf die Limeszone sinnvoller, von einer sozialen Wohlstandsgrenze zu sprechen, welche sich durch die Gesellschaft beiderseits der Grenze zog, und nicht von einer tatsächlichen geographischen Wohlstandsgrenze, auf welche Wesch-Klein hinweist (Wesch-Klein 2012, S. 120).
Whittaker bringt die soziale Situation am Limes auf den Punkt, wenn er berichtet, dass „the rural population on either side of the frontier zones was apparently little affected by Roman culture, while the native leaders were as tied to the Roman economy as were the Roman urban and military classes.“ (ebd., S. 129). Steuer bestätigt dies, indem er zwar darauf hinweist, dass römischer Schmuck, also Prestigegüter, jenseits des Limes in Germanien gefunden wurde, es sich „trotz der engen Nachbarschaft“ jedoch um „unterschiedliche Welten“ handelte. Lediglich bei der Elite fand ein tiefgreifenderer Wandel statt, was sich u.A. an deren Fähigkeit Latein zu sprechen und zu schreiben zeigte (vgl. Steuer 2021, S. 1034.) Römische Funde machen „nur einen geringen Bruchteil im Kontext zu den sonstigen Funden in den Siedlungen Germaniens“ aus, und man kann bei den niedrigeren Gesellschaftsschichten, selbst im direkten Vorfeld des Limes, von keiner bzw. einer nur sehr begrenzten Romanisierung sprechen (vgl. Steuer 2021, S. 1035.). Steuer fasst das folgendermaßen zusammen: „Die Germanen übernahmen gern Vielerlei aus der römischen Welt […] aber sie wollten keine Römer werden.“ (ebd., S. 1037).
Auch Erdrich impliziert, wie bereits gezeigt wurde, dass der Einfluss und die Intensität des Handels über die Grenzen hinweg und in diesem Zusammenhang die Romanisierung nicht überschätzt werden dürfen (vgl. Erdrich 2012, S. 306 f.). Insgesamt war nennenswerter Handel bis in die zweite Hälfte des zweiten Jhds. n. Chr. praktisch nicht vorhanden und selbst dann schien dieser zum größten Teil mit den Markomannenkriegen des Marcus Aurelius zusammenzuhängen. Selbst bei den südlich des Rheins auf Reichsgebiet siedelnden Cananefaten setzte eine Übernahme von römischer Keramik erst relativ spät und dann nur teilweise ein; germanische Keramik wurde immer noch bevorzugt, eine Einschätzung, welche Pohls vorherigem Kommentar zur Keramik der Cananefaten direkt widerspricht (vgl. ebd., S. 321 f.). Erdrich zufolge, zumindest was Nordwest-Germanien angeht, fanden sich römische Waren hauptsächlich aufgrund von „außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen Roms in Zeiten tiefgreifender innenpolitischer und militärischer Krisen“ in Germanien wieder, welche entweder militärische Interventionen, wie die Markomannenkriege, oder intensivierten diplomatischen Kontakt nach sich zogen (vgl. ebd. S. 328).
5 Fazit
Wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, hat sich das Bild des Limes in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf seine Funktion stark gewandelt. Obwohl man sich zum größten Teil einig zu sein scheint, dass die limites in den germanischen Provinzen und Rätien nicht die militärischen Bollwerke waren, für die man sie einst hielt, und dass der Limes durchaus Kulturkontakte zuließ, so ist man sich über deren Art und Weise uneinig. Während Steuer und Whittaker den Handel als hauptsächliches Medium des Kulturtransfers ansehen, lehnt Erdrich dies entschieden ab, und sieht das Auftauchen römischer Kulturgüter materieller und ideologischer Art in Germanien eher als Indiz einer auf Sicherheit und Krisenmanagement ausgelegten Außenpolitik Roms. Fest steht, dass römische Waren und Ideen auf verschiedenste Weise nach Germanien gelangten, darunter sowohl Handel und Diplomatie, als auch als „Mitbringsel“ germanischer Söldner und als Kriegsbeute, lediglich deren Gewichtung scheint noch nicht ganz klar zu sein.
Ebenfalls nicht abschließend geklärt im Hinblick auf die Kulturkontakte in der Limeszone, aber aus naheliegenden Gründen von hoher Wichtigkeit, ist die Frage nach der genauen ethno-kulturellen Zusammensetzung vor, sowie nach Ankunft der Römer in den späteren Grenzzonen und der Bevölkerungsdichte. Einig scheint man sich lediglich darin zu sein, dass es sich schon vor den Römern um heterogene Bevölkerungen gehandelt hat, und dass sich diese sowohl aus germanischen als auch aus keltischen Kulturen zusammensetzten. Wie genau diese einzelnen Völkerschaften zueinander und zu Rom standen, in welchem Verhältnis und in welcher Beziehung, könnte zum besseren Verständnis des Einflusses der limites auf die Lebenswelt der Einheimischen beitragen. Dies gilt besonders für den obergermanisch-rätischen Limes, von dem uns im Vergleich zum Niederrhein relativ wenige Informationen bzgl. der Völker und deren Beziehungen zueinander und zu Rom bekannt sind.
Unabhängig von der Art der Bevölkerung scheint eine gewisse Einigkeit darüber zu bestehen, dass der römische Einfluss insgesamt relativ gering war, und zwar beiderseits der Grenze. Darüber hinaus beschränkte sich die Romanisierung zum größten Teil auf die Elite, während die niedrigeren Gesellschaftsschichten weitestgehend unberührt von den zivilisatorischen Errungenschaften Roms blieben. Steuer erwähnt, dass B. Bleckmann „von einer Verschränkung zwischen römischer und germanischer Welt“ spricht, dass also eine „Verflechtung der Kulturen“ stattgefunden habe (vgl. Steuer 2021, S. 1033). Trotz dieser Verflechtung in manchen Bereichen hielt sich die traditionelle germanische Lebensweise vielerorts, selbst in den römischen Provinzen, hartnäckig.
Steidl spricht vom Limes als „scharfe Scheidelinie zwischen zwei völlig unterschiedlichen Kultursystemen“ (ebd., S. 1055). Auch Galsterer spricht im Bezug auf den Rhein in Niedergermanien, und damit auch im Bezug auf den Limes, von „einer Kulturgrenze“ (Galsterer 2000, S. 20). Ob diesen Aussagen zuzustimmen ist, ist im Kontext dieser Arbeit fraglich. Wie bereits erwähnt wurde, hat sich in den letzten Jahrzehnten überwiegend die Meinung durchgesetzt, dass es sich bei den limites um durchlässige und vor allem auch um dynamische Grenzzonen handelte, welche Handel und kulturellen Austausch nicht unterdrücken, sondern kontrollieren und steuern sollten. Welches Ausmaß dieser Austausch, sowohl kulturell als auch ökonomisch, angenommen hatte, scheint jedoch weniger klar, wie am Vergleich der Positionen Erdrichs, Steuers und Whittakers deutlich wird. Dass gewisse Gesellschaftsschichten der Bewohner der Magna Germania und der germanischen Provinzen, sowie der rätischen Provinz, in enger Beziehung mit dem römischen Reich standen, scheint offensichtlich. Im Bezug auf diese Eliten kann man durchaus auch von einem gewissen Prozess der Romanisierung sprechen. Was die niedrigeren Gesellschaftsschichten angeht fällt eine solche Beurteilung deutlich schwerer und eine Antwort, wenn eine solche zum jetzigen Zeitpunk überhaupt gegeben werden kann, muss differenzieren, ähnlich wie dies bei Whittaker und Steuer bereits geschehen ist. Germanen (und Kelten) welche in der Nähe des Limes lebten, kamen offensichtlich in intensiveren und häufigeren Kontakt mit der römischen Kultur, als dies bei den Bewohnern weiter im Landesinneren der Germania der Fall gewesen ist. Doch selbst bei der limesnahen Bevölkerung schien sich die Romanisierung stark in Grenzen zu halten, dies gilt sowohl für diejenigen, welche jenseits des Limes lebten als auch für jene, welche innerhalb der Provinzen lebten, auch wenn Letztere zugegebenermaßen zumindest quantitativ in Form römischer Waren stärker beeinflusst wurden. Trotz alledem scheint die Bevölkerung im Grenzgebiet grundlegende Aspekte ihrer Lebensweise über Jahrhunderte beibehalten zu haben, so z.B. das traditionelle Wohnstallhaus, althergebrachte Bestattungssitten und auch andere religiöse Sitten und Bräuche.
Im Angesicht dieses Fazits muss die Frage gestellt werden, was letztendlich der Einfluss des Limes auf die Kulturen der Limeszone war, wenn sich dadurch scheinbar so wenig verändert hatte. Dass die Grenzanlagen auch einen militärischen und strategischen Zweck erfüllten, wurde bereits dargestellt und darf bei einer holistischen Betrachtung der Grenzen des römischen Reichs in Germanien und Rätien auch nicht vergessen werden. Was jedoch ebenfalls nicht zu unterschätzen ist, ist der Einfluss über den Limes hinweg auf jene Mitglieder der oberen Gesellschaftsschichten, welche in intensivem Kontakt zu Rom standen. Denn diese Stammesführer, Fürsten, Häuptlinge und Edelmänner waren höchstwahrscheinlich auch maßgeblich an der Bildung der neuen Großstämme der Spätantike beteiligt, darunter die Franken am Niederrhein und die Alemannen auf großen Teilen der ehemaligen Gebiete der Germania Inferior und Rätiens. Whittaker hatte angemerkt, dass sich die germanischen Eliten im Limesvorfeld wenig, wenn überhaupt, von den Eliten innerhalb der Provinzen unterschieden. Zwei der einflussreichsten germanischen Führer des ersten nachchristlichen Jahrhunderts waren bekanntlich der römisch erzogene Arminius und sein markomannischer Gegenspieler Marobodus, welcher ebenfalls eine römische Ausbildung genossen hatte. Kann in dieser Angleichung der sozialen Oberschicht des limesnahen Germaniens an die römische Elite der Beginn der germanisch-deutschen Imitation des römischen Reiches, gipfelnd im heiligen römischen Reich deutscher Nation, gesehen werden? Dies wäre eine interessante Fragestellung für eine Untersuchung der Entwicklung dieser Beziehungen in der Spätantike und deren Einfluss auf die Stämme, welche in dem Gebiet verblieben, dass später zum Reich werden würde.
Für diese Arbeit muss allerdings das Fazit genügen, dass der Limes bzw. die Limeszone keinen großen Einfluss auf den Großteil der einheimischen Bevölkerung, ob keltisch oder germanisch, hatte. Lediglich bei der Oberschicht vollzog sich ein kultureller Wandel in Folge des Kulturkontaktes mit Rom. Die sozial niedrigeren Bevölkerungsschichten beiderseits der Grenze lebten weitgehend auf die selbe Art und Weise weiter, wie sie dies bereits vor Ankunft der Römer getan hatten, sieht man von der Einführung einiger neuer Gebrauchsgegenstände oder Änderungen in der Keramik ab. Germanien blieb zum größten Teil kulturell germanisch und die Grenzzonen blieben heterogen, auch wenn sich die ethno-kulturelle Zusammensetzung aufgrund der Ankunft neuer Siedler aus anderen Teilen des Reiches änderte, wobei unklar bleibt, in welchem Ausmaß dieser Umstand das Leben dort veränderte. Weitere Untersuchungen zur ethnischen und kulturellen Vielfalt der Limeszonen während der späten Kaiserzeit und der Spätantike könnten hier Licht ins Dunkel bringen. Basierend auf dem derzeitigen Wissensstand muss allerdings die Einsicht genügen, dass der Einfluss Roms wohl doch Grenzen kannte.
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