Die Lateinische These
Aktuell wird von der Mehrzahl der Experten angenommen, dass sich das aeltere Futhark im Laufe des ersten Jhds. v. Chr. unter starkem Einfluss des lateinischen Alphabets entwickelt hat, wobei hier noch debattiert wird, ob die Kapitalschrift oder das Kursive als Vorbild gedient hat (vgl. Duewel 42016, S. 176). Als erstes wurde diese These von Adolf Kirchhoff und Ludvig. F. A. Wimmer vorgebracht, nach wessen Meinung ein „Runenmeister“ das aeltere Futhark auf der Grundlage des lateinischen Alphabets des 3. Jhds. n. Chr. geschaffen hat (vgl. Arntz, Kap. V). Wimmer ging dabei von der lateinischen Kapitalschrift aus (vgl. vgl. Duewel 42016, S. 176).
Duewel bringt das urspruengliche „Verbreitungsgebiet der Runendenkmaeler“ (Duewel 42016, S. 176), den starken kulturellen Einfluss Roms und die Uebereinstimmung einger Runen mit lateinischen Schriftzeichen als Argumente fuer die Lateinthese vor (vgl. ebd). Auch Arntz verweist auf die grosse Aehnlichkeit einiger Runen mit den lateinischen Lettern, so z.B. den Zeichen fuer F, B, I, H, T und S (vgl. Arntz 2009, Kap. IV). Die abweichenden Zeichen koennen durch ein „conscious Germanic desire“ (Williams 2004, S. 272) etwas Eigenes zu kreiren, erklaert werden (vgl. ebd.). Troeng hat geaeussert, dass die kursiven lateinischen Lettern fuer a, h, n, s, l und o eine bessere Erklaerung fuer das Aussehen der Runen als die entsprechenden Kapitalzeichen bietet (vgl. Troeng 2003, S. 292).
Abgesehen von den morphologischen Aehnlichkeiten waren viele Germanen auch des Schreibens in lateinischer Sprache maechtig, wie Textzeugnisse aus dem 1. Jhd. n. Chr. belegen, was eine Adoption und Adaption gerade dieses Alphabets wahrscheinlich macht (vgl. Mees 2006, S. 204). Auch Rausing stimmt der Schriftlichkeit von Soldaten im roemischen Dienst, unabhaengig derer Herkunft, zu und argumentiert, dass diese zwar die Kapitalschrift lesen konnten, jedoch wesentlich vertrauter mit der lateinischen Kursivschrift gewesen seien. Germanen aus dem daenischen bzw. suedskandinavischen Raum, welche in der roemischen Armee gedient hatten, sollen diese dann zu den Runen modifiziert haben (vgl. Rausing 1992,S. 201).
Spurkland dagegen geht von einem Ursprung auf dem Kontinent aus, von dem aus sich dann die Runen oder deren Vorgaengeralphabet nach Norden hin ausbreiteten. Er spricht davon, dass die “umbilical cord”, also die metaphorische Nabelschnur, welche die Runen im Norden mit dem des Schreibens maechtigen Sueden Verband, nach dieser Ausbreitung gelockert hat bzw. komplett abgetrennt wurde. Dabei geht er allerdings nicht weiter auf den Grund für diese Trennung ein (vgl. Spurkland 2010, S. 77). Das Errichten von Runensteinen ginge Spurkland zufolge ebenfalls auf eine römische Praxis, in diesem Fall jene der “stone inscriptions”, zurück, welche um 150 n. Chr., also kurz vor der Zeit der ältesten Runeninschriften, ihren Höhepunkt fand. Als Beleg hierführ gibt er das Nennen des Urhebers einer Inschrift in Selbiger an (vgl. ebd., S. 79).
Laut Rausing befanden sich die Roemer im offenen Konflikt mit den weiter suedlich gelegenen Staemmen am Limes, unterhielten aber bessere Beziehungen mit den Bewohnern des Nordens, welche auch in der roemischen Armee dienten. Auf diesem Wege sollen die Runen bzw. deren Vorlagealphabet, in diesem Fall die lateinische Kapital- und/oder Kursivschrift, so zu den daenischen Inseln gelangt sein. (vgl. Rausing 1992, S. 201). Moeglicherweise dienten „manufacturers‘ marks“ auf Produkten aus dem roemischen Reich als Inspiration, wie dies beispielsweise bei drei verschiedenen Lanzen mit dem eingeritzten Wort „wagnijo“ der Fall zu sein scheint (vgl. Imer 2010, S. 53 ff.). Die bereits erwaehnte Fibel von Meldorf koennte ein Indiz fuer den Uebergang von den lateinischen zu den runischen Schriftzeichen sein (vgl. Andersen 2005, S. 2).
Waehrend Rausing 1992 davon ausging, dass die Runen durch ehemalige germanische Soldaten im roemischen Heer in den Bereich um die daenischen Inseln gelangten, schrieb Looijenga 1997 dass es keinerlei Spuren von sich zur Ruhe gestzten germanischen Hilfstruppen im Norden gaebe: „Nearly all Germanic soldiers were recruted from areas near the limes; we find attestations of alae and cohortes Ubiorum, Batavorum, Canninefatum, Frisiavonum, Breucorum etc.“ (Looijenga 1997, S. 41), d.h. Hilfstruppen rekrutiert aus den Staemmen der Ubier, Batavern, Cananefaten, Friesen, Breukern, etc. Stattdessen geht Looijenga davon aus, dass es einen regen Austausch von „merchants and craftsmen“ (ebd.) zwischen „North and South“ (ebd.) gab und die Schrift so Ihren weg nach Skandinavien fand. Gemeint mit dem Norden ist hierbei das Gebiet der aeltesten Runenfunde und mit dem Sueden namentlich „Germania Inferior“ (ebd.), also der von den Roemern zur Zeit der Entstehung der Runen besetzte Teil Germaniens im Gebiet um den Niederrhein und die Heimat der oben genannten Staemme. Auch Mees bestaetigt, dass Germanen im roemischen Heer aus weiter suedlich gelegenen Staemmen rekrutiert wurden, namentlich erwaehnt er ebenfalls die Friesen und die Bataver und fuegt diesen noch die Markomannen hinzu. Daher haelt er es ebenfalls fuer unwahrscheinlich, dass die Schrift von ehemaligen germanischen Soldaten, welche im roemischen Heer gedient hatten, nach Skandinavien gebracht wurden (vgl. Mees 2015, S. 57).
Arntz verwies weiterhin darauf, “daß die Lateinschrift seit alters nur rechtsläufig ist, während andere südeuropäische Schriften Linksläufigkeit und Pflugwendeform wie die Runen zeigen; ferner sei die Runenzahl größer als jemals die Zahl der Buchstaben im Lateinalphabet.“ (Arntz 2009, Kap.V)
Das Runenalphabet sei damit anderen, archaischeren Alphabeten aehnlicher als dem Lateinischen ( vgl. Mees 2015, S. 68).
Vennemann kritisiert den, seiner Meinung nach, relativ geringen Zeitraum vom roemisch-germanischen Kulturkontakt bis zu den ersten Runenfunden als moeglicherweise zu kurz um eine komplett neue Schrift aus dem lateinischen ABC zu entwickeln (vgl. Vennemann 2006, S. 376). Des Weiteren merkt er an, dass man die aeltesten Runendenkmaeler eher weiter suedlich an der Grenze zum roemischen Reich vermuten wuerde (vgl. ebd., S. 381), wie auch schon Looijenga und Mees.
Zu guter letzt kann die lateinische These auch nicht alle Formen, welche die Runen annehmen, erklaeren. Hierzu sei kurz auf das Beispiel Williams verwiesen: „the rune […] looks like a Latin <P> but actually represents /w/, whereas the rune for /p/, […], does not look like any Latin letter.” (Williams 2004, S. 265). Dies sei auch der Fall fuer mindestens sieben weitere Zeichen im aelteren Futhark (vgl. ebd., S. 267).
Die Nordetruskische These
Waehrend Arntz die Aehnlichkeit mancher lateinischer Lettern mit einigen Runenschriftzeichen zugab, war er dennoch kein Anhaenger der These des lateinischen Ursprungs der Runen (vgl. Arntz 2009, Kap. V). Ganz im Gegenteil, er war einer der bekanntesten Verfechter der nordetruskischen These, welche zur Zeit Arntz allgemein sehr beliebt gewesen ist (vgl. ebd.). Duewel definiert die nordetruskische Alphabete als „Regionale Alphabete in den norditalischen Alpen (das rätische von Bozen, Magré und Sondrio, das leptonische von Lugano) und der venetischen Ebene (das venetischen von Este). Sie beruhen direkt oder indirekt auf dem etruskische Alphabet, das wiederum aus dem griech hervorgeht (Rix 1992, S. 417ff.).” (Duewel 42016, S. 177).
Arntz zufolge war es Karl Weihnold, der 1856 zu allererst einen Ursprung der Runen in Italien und Etrurien vermutete. Damals wurde noch davon ausgegangen, dass diese über die Kelten zu einem suedgermanischen Stamm gelangten, eine These die bereits von Wimmer widerlegt wurde (vgl. Arntz 2009, Kap. V).
Für den Ursprung der Runen in einem nordetruskischen Alphabet spricht die Übereinstimmung des Lautsystems der germanischen und etruskischen Sprache: „Am deutlichsten sind sie bei l, u, o; aber auch w und a sind höchst charakteristisch.“ (ebd.). Auch die Form zeigt große Ähnlichkeit, vor allem beim venetischen Alphabet (vgl. ebd.).
Für den Zeitraum der Übernahme setzt Arntz das 2. Jhd. v. Chr. an, da es seit ca 180 v. Chr. auch einzelne lateinische Zeichen in den nordetruskischen Alphabeten gibt, wie z.b. F, r und b, welche die Ähnlichkeit der entstprechenden Runen zu diesen lateinischen Lettern erklären könnte (vgl ebd.). Diesen Gedanken nimmt auch Duewel in seiner Arbeit auf (vgl. Duewel 42016, S. 177 ). Des Weiteren waren die nordetruskischen Alphabete Anfang des 1. Jhds. v. Chr. bereits vollständig vom Lateinischen verdrängt worden, weswegen eine Übernahme während des 1. Jhd. v. Chr. wenig Sinn macht (vgl. Arntz 2009, Kap. V).
Auch der bereits erwähnte Negauer Helm B würde zu dieser Theorie passen, da er zumindest belegt, dass eine germanisch-sprachige Person über nordetruskische Schreibkenntnisse verfügt hat (vgl. Mees 2015, S. 45). Der Negauer Helm A könnte des weiteren Aufschluss ueber die ethnische Zugehörigkeit des Schreibers geben: C(enturia) Erul(i), ein Mitglied des auf den dänischen Inseln beheimateten Stammes der Eruler (vgl. 4Duewel 2016, S. 180).
Bisher fehlte allerdings jeglicher Nachweis für nordetruskische Alphabete noerdlich der Alpen, bis man dann in den 1950er Jahren „North Etruscan inscriptions“ (vgl. Mees 2015, S. 45) in Magdalensberg in Kärnten gefunden hat, „that clearly can only date to the early decades A.D.” (ebd.). Hiermit, und mit dem „North Etruscan graffiti” (Mees 2015, S. 46), das in den 1970er bei Manching in Bayern gefunden wurde, hatte man nun „evidence for a transalpine use of North Etruscan letters suggested by the discovery of rock inscriptions at Steinberg in Northern Tyrolia in 1957.” (ebd.).
Die Nordetruskische Theorie nimmt als Ursprungsort der Runen also einen Ort im suedlichen Germanien oder vielleicht sogar noch weiter suedlich an, unter Umstaenden waren es die Kimbern oder die Markomannen, welche die Runen durch Ihren Kontakt mit Voelkern, welche eine nordetruskische Schrift nutzten, selbst schufen und verwendeten (vgl. Arntz 2009, Kap. V). Dies koennte unter Umstaendern durch germanische Soeldner im Dienste eben dieser Voelker geschehen sein vgl. (4Duewel 2016, S. 179).Andere nahmen auch die sogenannten Alpengermanen als moegliche Urheber der Runen an, allerdings ist deren ethnische Zugehoerigkeit noch nicht eindeutig geklaert (vgl. 4Duewel 2016, S. 179). Looijenga zufolge koennte die Uebernahme waehrend der Germanenkriege in Norditalien oder Raetien stattgefunden haben. Soeldner aus den Staemmen der „Chauci, Batavi and other Germani served as Cohortes Germanorum in Germanicus‘ army in 15, 16 and 69 AD (Bang 1906:58, with ref.).“ und koennten dort neben der lateinsichen auch mit der nordetruskschen Schrift in Kontakt gekommen sein (vgl. Looijenga 1997, S. 45).
Der groeßte Kritikpunkte an der nordetruskischen These, wie bereits an der griechischen und, wie wir im Folgenden sehen werden, auch an der phönizischen These, ist die jahrhundertelange Lücke zwischen den letzten aktiv genutzen nordetruskischen Alphabeten und den ersten Runen, welche sich auf ueber 200 Jahre belaeuft (vgl. Mees 2015, S. 45).
Des Weiteren haelt es Duewel für unwahrscheinlich, dass die Kimbern als Urheber der Runen in Frage kommen. Sie haetten „sicher andere Sorgen als die Runenschrift zu schaffen.“ (vgl. Duewel 42016, S. 179), waehrend Sie auf der Suche nach neuem Land in diverse Kaempfe verwickelt waren.
Die Phönizische These
Zu guter Letzt wollen wir uns nun der phoenizischen bzw. Phoenzisch-punischen oder phoenizisch-karthagischen These zuwenden (punisch und karthagisch sind Synonyme, die sich beide auf die urspruenglich phoenizische Kolonie Karthago bzw. dessen Reich beziehen). Auch wenn ein direkter phoenizischer Ursprung anstelle einer Herkunft auf „Umwegen“ ueber eines der anderen mediterranen Alphabete bereits zu den Anfängen der Runenforschung in Erwaegung gezogen wurde (vgl. Kawasaki 2017, S. 38), hat diese in den letzten beiden Jahrzehnten vor Allem in Theo Vennemann (vgl. Duewel 42016, S. 181), welcher schon seit Langem eine linguistische und kulturelle Verbindung zwischen dem Semitischen und Germanischen postuliert (vgl. Vennemann 2012, S. 1 ff.), einen starken Verfechter gefunden und frischen Wind bekommen.
Vennemann hat seine Theorie 2006 hauptsaechlich anhand der Namen bzw. Reihenfolge der Runen aufgezogen (vgl. Duewel 42016, S. 181), fuer welche die Alternativen keine plausible Erklaerung bieten konnten, da sowohl das lateinische und das griechische Alphabet als auch die nordetruskischen Schriften mit den Zeichen fuer die Laute A, B und C beginnen. Allein das griechische hatte bzw. hat noch tatsaechliche Bezeichnen fuer seine Buchstaben, welche ueber die simple Wiedergabe des entsprechenden Lautes hinausgehen: Alpha, Beta, Gamma, usw., wobei diese auch hier keine inhaerente Bedeutung mehr inne haben, sondern blosse Bezeichnungen fuer die einzelnen Zeichen waren und sind. Nun beginnt das karthagisch-punische Alphabet, welches seines Ursprungs in Karthago nach natuerlich phoenizisch bzw. semitisch ist, zwar auch mit Buchstaben fuer die Laute A, B und C, besass allerdings – so wie das Vorgaengeralphabet des Griechischen- Eigenbezeichnungen fuer die einzelnen Lettern welche auch tatsaechlich eine inhaerente Bedeutung trugen und im Hebraeischen auch heute noch tragen. Der erste Buchstabe des hebraeischen Alphabets lautet „Alef“, verwandt mit dem phoenizischen „Aleph“, was Rind bedeuted. Wie vorher bereits ausgefuehrt bedeuted der erste Buchstabe der Runenreihe „fehu“ Vieh.Vennemann stellt hiermit eine Verbindung des akrophonen Prinzips des Futharks und des punischen Alphabets her und verbindet im Folgenden dann auch weitere Bezeichnungen einzelner Runen mit den ersten Buchstaben bzw. deren Bezeichnung im punischen Alphabet und gibt damit eine moegliche Erklaerung fuer die Namen der einzelnen Zeichen und der Reihenfolge der Selbigen im aelteren Futhark (vgl. Vennemann 2006, S. 381 ff.).
Als weiteres, etwas abstrakteres Beispiel, sei die Uruz-Rune genannt, welche Vennemann vom phoenizischen Buchstaben fuer G, „Gimel“, ableitet. Gimel bedeuted Kamel und da die Germanen dieses Tier nicht kannten, wurde das naechstbeste Ihnen bekannte einheimische Lebewesen als Ersatz verwendet: Der Auerochse oder Ur, Uruz in der theoretischen Proto-Germanischen Sprache (vgl. Vennemann 2012, S. 10).
Im Kapitel „Das aeltere Futhark“ hatten wir bereits die verschiedenen moeglichen zeitlichen und oertlichen Urspruenge der Runen angesprochen. Fuer die phoenizische These ergibt sich zufolge Vennemann ein Zeitrahmen von 525 v. Chr. bis 201 v. Chr. „und zwar am wahrscheinlichsten in der Zeit zwischen der Expedition des karthagischen Admirals Himilco, die dem Ziel galt im atlantischen Norden neue Handelsrouten und Handelsplätze auszukundschaften und zu sichern22, und dem Ende des Zweiten Punischen Krieges, durch den Karthago seine europäischen Kolonien verlor,“ (vgl. ebd., S. 374). Als Ursprungsort gibt Vennemann, genau wie die Vertreter der lateinischen These, aufgrund der hohen Funddichte und den aeltesten Runendenkmaelern, Daenemark bzw den Nordostseeraum an. Er bettet die Theorie zur Entstehung der Runen dabei in seine Theorie eines starken semitischen Einflusses auf die fruehe germanische Gesellschaft ein und spricht sogar von “Kolonisierung”. Als Grund fuer die karthagische Praesenz im Norden Europas gibt Vennemann vor allem verderbliche Rohstoffe wie “ (a) landwirtschaftliche Produkte, (b) Produkte der Sammelwirtschaft, […], (c) Menschen, […], (d) Salz.” (ebd., S. 379 f.) an.
Nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges und Karthagos Verlust seiner Kolonien sollen einige der karthagischen Siedler an der Nordseekueste Germaniens verblieben sein. Diese Siedler lernten die Sprache der Einheimischen (Proto-Germanisch) und passten das importierte punische Alphabet an diese an. Daraus entstand mit der Zeit das aeltere Futhark, welches dann schlussendlich nur noch fuer das Proto-Germanische verwendet wurde (vgl. Vennemann 2012, S. 25).
Vor Vennemann hatten auch schon Bang (vgl. Bang 1997, S. 2 ff.) und Troeng einen semitischen Ursprung zumindest einger Zeichen des aelteren Futharks in Erwaegung gezogen, letzterer hatte diesen aber nicht an den Phoeniziern oder deren Nachfahren, den Karthagern, sondern an am Limes stationierten nabataeischen Hilfstruppen aufgezogen. Troengs Meinung nach war zwar der Grossteil der Runen vom lateinischen Alphabet abgeleitet, jedoch sah er fuer mindestens fuenf Schriftzeichen einen semitischen Ursprung. Aufgrund einer Verschlechterung des Klimas, eines potentiellen Ausbruchs der Pest und mangelnder Versorung aus dem Imperium Romanum sahen sich die Nabataer gezwungen Raubzuege bis weit in den Norden Germaniens zu unternehmen. Diese Hilfstruppen haetten sich dann in Daenemark niedergelassen und bei der Neugestaltung der daenischen Gesellschaft um 200 n. Chr. mitgewirkt und unter anderem auch Ihr Alphabet unter den Einheimischen, oder zumindet zunaechst der Elite, verbreitet (vgl Troeng 2003, S. 292 ff.).
Bang zufolge kamen die Runen von einer nicht naeher bestimmten semitischen Schrift zwischen Nil und Tigris, welche aelter als das griechische und sogar phoenizische Alphabet sein soll, was seiner Meinung nach unter Anderem die archaischen Charakteristika des aelteren Futharks erklaert. Er sieht zwar „kinship-similarities between the Runes and Greek and Latin“ aber „clear generation differences“. Aus diesem Grund sei das Futhark zwar eindeutig mit den anderen klassischen Schriftformen verwandt, komme jedoch „from a different line of descent“ (vgl. Bang 1996, S. 2ff.).
Die phoenizische These, vor allem die von Vennemann vorgelegte, bietet nicht nur eine moegliche Erklaerung fuer die Reihenfolge des aelteren Futharks und dessen akrophonisches Prinzip, sondern auch fuer dessen Ursprungsort zwischen Nord- und Ostsee anstelle weiter suedlich gelegen an der Grenze zum roemischen Reich, wo man diesen eher aufgrund des intensiveren interkulturellen Kontaktes von Roemern und Germanen vermutet haette (vgl. Kawasaki 2017, S. 39).
Auch hier bleibt, genau wie bei der nordetruskischen und griechischen These, die jahrhundertelange Fundleere und der Mangel an archaeologischen Zeugnissen punisch-karthagischer Art an den Kuesten der Nordsee zu beanstanden (vgl. 4Duewel 2016, S. 181).
An Bangs Theorie wiederrum hat Vennemann den nicht genau spezifizierten Ursprung, sowie den Mangel einer Erklaerung bezueglich der Vermittlung von Aegypten nach Germanien kritisiert (vgl. Vennemann 2016, S. 371 f.).
Kawaski, obwohl der phoenizischen These nicht abgeneigt, gibt in seiner 2017 erschienen Arbeit zu, dass bisher jegliche Belege des Kontakts zwischen Karthagern und den Nordseegermanen fehlen, wobei er eine Verbindung durchaus fuer moeglich haelt und dabei auf eine angebliche Atlantikueberquerung von Phoeniziern nach Brasilien verweist (vgl. Kawasaki 2017, S. 38 f.)
Fazit und Ausblick
„If it walks like a duck, it probably is a duck.“ (Williams 2004, S. 267). Mit dieser verkuerzten Version des bekannten englischen Sprichwortes hat Williams seine Meinung zum Vorlagealphabet des aelteren Futharks zusammengefasst. Dieser nach waren die morphologischen Aehnlichkeiten zwischen jenem und dem lateinischen Alphabet eindeutig (vgl. ebd.). Dass die Sache nicht ganz so einfach ist zeigt sich am fehlenden Teil des Sprichworts, welches vollsteanding lautet: „If it walks like a duck and talks like a duck, it probably is a duck.“ (ebd.) Williams verzichtete auf diesen Teil des Zitats, da viele Runen lateinischen Lettern zwar sehr aehnlich sehen, in Ihrer Betonung allerdings vom vermeintlichen Gegenstueck abweichen: „If we return to our runic P we find that it does indeed walk like a duck, that is, it looks like a Roman <P>, but it does not talk like a duck, since it does not have a phonemic value /p/.“ (ebd.) Wahrend fuer Williams das blosse Aussehen der Runen eindeutig genug ist um das Lateinische ABC als Vorgaengeralphabet anzunehmen, sollte nach der Lektuere dieser Arbeit klar sein, dass dies auch 15 Jahre nach der Veroeffentlichung Williams Arbeit keinesfalls dem allgemeinen wissenschaftlichen Konsens entspricht.
Duewel zufolge lassen sich die Thesen zum Ursprung des aelteren Futharks nach zwei Grundsätzen beurteilen: „a. Je mehr Ort und Zeitpunkt der Entstehung vom Überlieferungszentrum entfernt sind, umso unwahrscheinlicher wird eine darauf bauende Annahme. Denn sie verlangt für zu überwindene Weg- und Zeitsrecken Erklärungen, die notgedrungen angreifbare Konstruktionen bleiben.
b. Die Auffassung, der oder die Schöpfer der Runenreihe habe(n) mehrere lokal oder regional benachbarte Vorlagenalphabete benutzt (eklektische Vorgehensweise) muß man kritisch sehen, da sie zu Beliebigkeit und Willkür neigt.“ (Duewel 42016, S. 175).
Dem ersten der beiden Grundsätze zufolge waeren die nordetruskische und vor allem die phoenizische These unwahrscheinlich, dennoch werde alle drei in diesem Text vorgestellte Thesen zur Herkunft des aelteren Futharks auch heute noch von Experten vertreten und alle drei haben mit Ihren eigenen Schwaechen zu kaempfen. Waehrend die lateinische These zwar das zeitlich und oertlich naechste Vorlagealphabet zum aelteren Futhark darstellt und die Morphologie der Runen bis zu einem gewissen Grad erklaeren kann, stimmen die germanischen Schriftzeichen in Ihrem Aussehen eher mit den nordetruskischen, spezifisch dem venetischen Alphabet ueberein. Keine der beiden Thesen kann jedoch die Reihenfolge oder die Namen der einzelnen Runenzeichen erklaeren, wie die phoenizische These es als Einzige bisher vorgebrachte in der Geschichte der Runologie plausibel zu tun vermag. Sehr stark gegen diese These spricht wiederrum die jahrhundertelange Fundleere zwischen dem Untergang des punischen Reiches und der vermeintlichen Kolonisierung Germaniens, als auch das Fehlen archaeologischer Belege einer Verbindung dieser beiden doch oertlich und zeitlich sehr weit von einander entfernten Kulturkreisen.
Die Fundleere soll sich damit erklären lassen, dass die frühesten runischen Inschriften auf verderblichen Materialien geschrieben wurden, welche mit der Zeit vergingen. Duewel argumentiert dagegen, dass die ältesten vorhandenen Funde mit Runeninschriften ebenfalls auf verderblichen Materialien geschrieben wurden und es somit keinen Grund gibt aus dem es keine noch aelteren Ueberbleibsel geben sollte, es sei denn, die Runen waeren erst im 1. Jhd. n. Chr. erfunden worden (vgl. Duewel 42016, S. 178). Auch Arntz schließt sich dieser Meinung an und wendet weiterhin ein, dass Runen nicht nur auf Holz geschrieben wurden und selbst wenn dies der Fall in deren fruehster Stufe gewesen waere, keine fruehen Holzfunde bekannt seien (vgl. Arntz 2009, Kap. IV).
Dass Duewels zweites Kriterium zur Beurteilung der Thesen zur Entstehung der Runen, die Annahme von mehreren Vorlagealphabeten – wie beispielsweise bei einigen Varianten der nordetruskischen Theorie der Fall – zur „Beliebigkeit und Willkür“ verführt, ist grundsätzlich zuzustimmen, allerdings besteht trotzdem die realisitische Moeglichkeit, dass sich das aeltere Futhark aus mehr als nur einem Alphabet abgeleitet hat.
Ob die Frage des Ursprungs der Runen letztendlich geklaert werden kann heangt davon ob und in welchem Umfang archaeologische Funde aus dem 1. Jhd. n. Chr., wie zum Beispiel die schon oft erwaehnte Fibel von Meldorf oder auch die Keramik-Scherbe von Osterroenfeld (vgl. Mees 2006, S. 205), oder auch schon Funde aus vorchristlicher Zeit in Zukunft noch gemacht werden und in welcher Sprache und Schrift diese geschrieben sind. Ein Fund eines „Hybridalphabets“ waere in diesem Kontext sensationell.
Auch Hinweise auf potentielle karthagische Siedlungen waren im Zusammenhang mit der phoenizischen These Theo Venemanns von groesstem Interesse, auch wenn zu bezweifeln bleibt ob es eine Verbindung zwischen Karthago und Nordgermanien je gegeben hat. Falls dies der Fall gewesen waere und die Zahl der Siedler signifikant genug um das Schreibsystem, die Sprache und die Gesellschaft der fruehen Germanen im Nordostseeraum zu beeinflussen, wie von Vennemann postuliert, dann koennten diese auch geringe Spuren in den Genen der heutigen Bevoelkerung in dieser Region hinterlassen haben. Dies war auch der Fall bei den Migrationen der Proto-Indo-Europaer, welche simultan Ihre Gene und die indoeuropaeischen Sprachen ueber grosse Teile Eurasiens verbreiteten (vgl. Haak 2015, S. 207 ff.) und eine Untersuchung dieser Art koennte zumindest theoretisch Aufschluss darueber geben, ob es jemals eine signifikante Anzahl punischer Siedler in dieser Region gegeben hat. Vennemanns Theorie definitiv zu falsifizieren oder zu verifizieren ist hiermit wahrscheinlich nicht moeglich, aber es wuerde zumindest einen Anhaltspunkt dafuer oder dagegen geben.
Ob entsprechende archaeologische Funde gemacht oder archaeogenetische Ergebnisse erzielt werden, bleibt abzuwarten. Davor wird die Debatte um die Herkunft des aelteren Futharks und der Runen im Allgemeinen wohl nicht eindeutig und allgemein zufriedenstellend geloest werden koennen.
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Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Futhark auf der Steinplatte von KYLVER (nach Liestol 1981, S.247). In: Duewel, Klaus: Runenkunde. (E-Book) Stuttgart/Weimar 42016.
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